Anton

Als wäre es etwas Heiliges, so streichen die breiten, trockenen Finger des Oberst über den Telefonapparat, der wie eine Reliquie inmitten des Gefechtsstandes auf einem brüchigen, instabilen Holztisch thront. Die Finger hinterlassen Spuren, als sie den Feinstaub in ihren Bewegungen fort wischen.
Im Bunker ist es dunkel. Die vereinsamte Glühbirne, die von der modrigen, hölzernen Decke hängt, mutet an wie ein schwitzender Schwerarbeiter, der sich zu jeder Zeit darum bemüht, mit den wenigen Kräften, die zur Verfügung stehen, seine Aufgabe zu erfüllen.
Die Augen des Regimentskommandanten sind schon lange an das anstrengende, fahle Licht des Schwerarbeiters gewöhnt – und sie sehen mit einer Traurigkeit und Müdigkeit auf den Hörer des Telefons, wie es der Major noch niemals zuvor bei einem Menschen erlebt hat. Er, der Stellvertreter des Kommandanten, steht schweigend vor ihm.
„Ungewohnt, wenn die Geschütze schweigen, nicht wahr?“ Die Stimme des Oberst hat ebenso etwas Gebrochenes wie sein Blick und seine nach vorn gebeugte Haltung.
„In der Tat, Herr Oberst“, bestätigt der Major mit geschwollener Brust.
Der deutlich jüngere Offizier kann die Augen nicht einen Moment vom Vorgesetzten lassen. Im Schein der Glühbirne sieht der weißhaarige Mann, dessen Ruhestand schon lange überfällig ist, aus, wie ein gepeinigter Geist. Der weiße, kurz gehaltene Schnauzer hebt sich kaum noch von der Blässe seines Gesichtes ab. Die Tiefe der unzähligen Falten auf Wangen, Stirn und Hals zeugen mehr von all den körperlichen wie auch geistigen Höchstleistungen, die er über die Jahrzehnte erbringen hat müssen, denn von seinem Alter.
Der Major, welcher mit glatter, unversehrter Haut und schwarzem Haupthaar, Koteletten und Schnauzbart exakt das Gegenteil seines Vorgesetzten beschreibt, ist von dessen Anblick fasziniert, wie er es niemals beschreiben könnte. Und ebenso groß wie seine merkwürdige Faszination ist seine Unsicherheit. Niemals sollte ein Vorgesetzter seinem Untergebenen so begegnen, wie es der Oberst in diesen Augenblicken tut. Auch nicht, wenn es der engste Vertraute ist. Niemals.
„So friedlich“, sinniert der Kommandant weiter. „Man wird wieder demütig, weil man plötzlich bemerkt, wie wertvoll doch Ruhe ist.“
„In der Tat, Herr Oberst“, wiederholt der Major stramm und erntet ein schwaches, gutmütiges Lächeln.
„Dieses Telefon schweigt nun schon wochenlang.“ Staub und Erdpartikel rieseln von der Decke auf den Tisch. „Es wird bald vorbei sein.“
„Sie glauben wir verlieren?“
„Ich weiß es. Und Wien weiß es ebenso, davon bin ich überzeugt. Die einzige Frage, die bleibt, ist… Wie lange dauert es noch, bis sie es wahr haben wollen.“
Das Schweigen nach dieser unverblümten Aussage ist erdrückend – für den Major.
Er bemerkt, wie er zu schwitzen beginnt und wie sich die Muskeln spannen, während der Oberst in einer Seelenruhe, die er nicht versteht, die Stellungspläne an der dunklen Wand betrachtet.
„Der nächste Anruf wird den Krieg für die Männer hier beenden, mein Freund“, erklärt der Kommandant mit den Händen im Kreuz. „Ich warte schon seit Wochen darauf.“
„Herr Oberst, wir haben die Russen zu Fall gebracht! Und seither haben wir auch die Italiener hier wieder und wieder zurück-!“
„Die Russen, mein Freund…“ Der Oberst dreht sich um. Trotz des Protestes gewinnt die Stimme kaum an Kommandantenwürde. „Die Russen haben sich in erster Linie selbst zu Fall gebracht. Revolution. Unzufriedenheit der Menschen. Verdrossenheit gegenüber dem Staat, seiner Regierung. Und das während des größten und wahnsinnigsten Krieg, den die Welt je gesehen hat. Zu viel für ein zu großes, zu armes Land.“ Er schüttelt den Kopf und geht am Major vorbei. „Österreich-Ungarn‘s Innenpolitik erfährt dasselbe Leid, wie die der Russen. Die Menschen sind müde. Sie wollen diesen Krieg nicht mehr. Sie wollten diesen Krieg nie. Und der Nationalismus ist nicht mehr aufzuhalten. Ein Wunder, dass wir ihn überhaupt so viele Jahrzehnte im Zaum halten konnten.“
Schweigen.
„Bitte, begleiten Sie mich nach draußen, Maximilian.“
„Jawohl, Herr Oberst.“ Der Major macht augenblicklich auf den Absätzen kehrt.

Draußen hebt sich der wolkenverhangene Himmel in keiner Weise vom traurigen, trostlosen Grau des Erdbodens ab. Das, was einmal eine Landschaft gewesen ist, gleicht schon seit langer Zeit einer unendlichen Einöde. Bäume ohne Kronen; Schutt und Asche soweit das Auge reicht. Die Ruhe ist beängstigend. Und je ruhiger es ist, desto mehr Angst schleicht in den eigenen Laufgräben umher. Für viele Soldaten ist das hier nicht mehr Italien. Das sonst so sonnige und idyllische Land hat sich in diesen Gefilden in eine Unterwelt verwandelt, wie sie manche aus den nordischen oder griechischen Sagen kennen. Nur Staub. Nur Stein.
Vor dem Gefechtsstand melden dem Oberst einige Mannschaftssoldaten ehrfürchtig ‚ohne Vorkommnisse‘ und ‚beim Stellungsausbau‘. Er tut es mit einem ruhigen Nicken ab.
„Weitermachen.“
Der Kommandant sieht in den Himmel, was dem Major den Blick auf die dunklen Augenringe ermöglicht. Wie sehr errötet die Augen und die Tränensäcke sind, erkennt der Stellvertreter erst im Tageslicht.
„Als wolle uns selbst die Sonne strafen und ihren wohltuenden Schein absichtlich zurück halten“, murmelt der Oberst.
Der Major atmet durch. „Herr Oberst?“
„Bitte.“
„Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?“
„Gewiss doch.“
Kurzes Zögern. „Wie geht es Ihrer Familie unter all den Umständen?“
Der Oberst lächelt erneut sein gutmütiges Lächeln, doch in einer Kürze, die deutlich macht, wie schwer es ihm fällt, einen munteren Eindruck zu halten. Und er weiß, dass der Major lediglich im Versuch ihn auf andere Gedanken zu bringen fragt und um weitere Resignation zu verhindern.
„Die weilt nicht mehr in dieser Welt.“
„Kein einziger?“ kommt es dem Major überstürzt über die Lippen.
„Nein, Max. Kein einziger.“ Der Oberst wendet sich ganz seinem Stellvertreter zu. Und dann gelingt es ihm – das Lächeln hält an. „Keine Sorge, guter Freund. Kein Grund sich über sich selbst zu ärgern.“
Max schluckt sichtbar.
Der Oberst ergreift seinen Oberarm. „In Anbetracht dessen, was in diesen Tagen in dieser Welt geschieht, ist es sogar besser so.“
Er wendet sich ab, dem Schlachtfeld zu, das nicht einsehbar ist, weil es viel höher liegt. Eine Treppenleiter führt hinauf. Sie ist voll von hart gewordenem Schlamm.
„Die Welt ist im Wandel.“ Das Lächeln verschwindet um genau so schnell wieder zu kommen – stärker als bisher. „Ja, Max, ich glaube, sie haben es in der Ewigkeit besser als hier. Kein Grund für Traurigkeit.“
Der Oberst bricht ein Stück des harten Drecks von einer der Treppen. „Die eigentliche Not wird erst noch kommen. Und sie wird nicht nur Soldaten betreffen, sondern jeden Einzelnen. Du wirst stark sein müssen, Max.“
„Was werden Sie tun? Danach.“
Der Oberst ergreift die Leiter an beiden Seiten. „Ich werde heimgehen, Max.“ Und das Lächeln bleibt. „Und dort werde ich bleiben. Die Monarchie braucht mich nicht mehr.“
Das nächste Schweigen zwischen den beiden Männern ist das längste bisher. Sie verharren in ihrer Haltung. Ein Rabe überfliegt das Schlachtfeld und gibt sein raues Krächzen von sich. Ein zweiter gesellt sich hinzu. Max kann die Augen nicht mehr vom Rücken des Oberst lassen. Er weiß nicht wieso. Ihm ist plötzlich unwohl und noch mehr Schweiß tritt aus den Poren. Der Gefreite, der zur Ablöse des Beobachtungspostens an den beiden Offizieren vorbei muss, ist gezwungen, die Meldung zu wiederholen. Keiner der beiden hat ihn bemerkt. Doch schließlich ist es der Major, der das Wort an ihn richtet und ihn gehen lässt.
„Ich will, dass Du das Kommando über das Regiment übernimmst“, spricht der Oberst auf die Treppe herab. „Als Stellvertreter schlage ich Major Kinsky vor.“
„Herr Oberst, ich bitte Sie!“
Der Oberst dreht sich ansatzweise um. „Pass auf Dich und Deine Lieben auf, Max. Komme, was da wolle. Und nimm die Ehre an, all den tapferen, braven Männern hier Friedensbote zu sein – wenn es so weit ist.“
„Herr Oberst – wir brauchen Sie nach wie vor! Was auch immer Sie vor haben, ich kann das nicht zulassen!“ Max atmet heftig dem Rücken des Vorgesetzten entgegen. „Die Männer hier! Die Monarchie! Wir werden jeden einzelnen Mann mit Führungsqualität
brauchen!“
Die Gestalt des Oberst erwächst wieder zu voller Größe. Er blickt auf an den Rand des Grabens hinauf. „Das einzige, was dieses Land jetzt braucht-“
„Herr Oberst!“
„-ist Gottes ganze Gnade.“
„Nein!“
„Ich geh heim.“
Voller Kraft wuchten die Beine des alten Mannes dessen Körper über die Leiter. Im Nu steht er auf dem Schlachtfeld.
„HERR OBERST!“ ruft Max und erklimmt selbst die Leiter. Seine Hand will den
Kommandanten noch fassen – sie greift ins Leere. „NEIN!“
Die Füße tragen ihn so stolz, wie niemals zuvor, über das Feld der Ehre, die seine Seele in diesem Moment überflutet.Die Brust des alten Mannes schwillt an. Die Hände werden zu Fäusten und das Lächeln ist so frei, unbeschwert und glücklich, wie niemals in seinem so langen Leben zuvor. Tränen wärmen die Wangen, nur um sie gleich darauf durch die darüber streifende Brise wieder zu kühlen.
„ANTON!“ schreit Max bereits über den Rand des Grabens auf die italienische Seite hinüber, die nur wenige Dutzend Meter entfernt ist.
Und dann, aus nächster Entfernung:
„Attenta!“
„Un ufficiale! Non sparare! Non spara-!“
Der Schuss von italienischer Seite ist lauter, als es jedes Artilleriegeschoss in diesem Augenblick sein könnte. Er kommt der Verbreitung des Befehls, nicht zu schießen, zuvor.
„NO! Tu cretino integrale! NO!“
„Ma, tendente-!“
„Chiudi il becco!“
Max liegt vielmehr auf der Leiter als er steht – wie ein Mann in Seenot, der sich mit aller Kraft an einem schwimmenden Brett festhält.
Die Tränen tropfen auf das Feld.
Die strenge Rüge, die der italienische Schütze abbekommt, nimmt er gar nicht mehr wahr. Auch nicht das Geschrei der eigenen Soldaten. Und ebenso wenig, dass sie dicht an ihm vorbei laufen und Stellung beziehen. Das nervöse und hitzige Erbitten von Befehlen seiner Hauptmänner und Leutnante hört er nicht.
Stattdessen hört er etwas ganz anderes. Leise, heimlich, regelrecht flüsternd dringt es trotz des plötzlichen Aufruhrs an sein Ohr. Seine Augen werden groß.
Max dreht sich herum und sieht durch den Eingang des Bunkers.
Das Telefon klingelt.

~ von Sylvan - 13. März 2011.

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